Das goldene Loch von Kernenried

(Geschichte für das Editorial im Mitteilungsblatt der Gemeinde Kernenried, November 2020)

 

Es ist früh morgens auf dem Schulhausplatz, kurz bevor für viele Kinder die erste Schulstunde der Woche beginnt. Nicht wie üblich warten die Kinder vor dem Eingang des Schulhauses, sondern stehen dicht gedrängt und gebannt auf dem Sportplatz dicht am Zaun versammelt. Alle Blicke sind in südwestliche Richtung über das Mösli zur Müli und zum Oberdorf von Zauggenried gerichtet. Keine Müli und erst recht keine Häuser von Zauggenried sind im dichten und feuchten Nebel zu sehen. Die Sonne hat noch zu wenig Kraft um sich gegen den wässerigen Dunst durchzusetzen. Trotzdem sind aus der besagten Richtung flackernde Lichter auszumachen, welche immer wieder aufblitzen und ein mystisches Schauspiel in der nassen Luft erzeugen. Aus der Ferne sind immer wieder undefinierbare Stimmen zu vernehmen. Ab und zu hören die Schüler furchteinflössendes brummen von Maschinen oder lauten Motoren. Den Kindern fällt es bei diesem Spektakel, über welches rege spekuliert wird, schwer den Weg in die Klassenzimmer zu finden, als das laute Läuten der Schulglocke durch die Lüfte klingt. Schliesslich müssen die letzten hartnäckigen Kinder von den Lehrern wie eine Herde Schafe ins Gebäude getrieben werden.

 

In den Klassenzimmern fällt es den Lehrern nicht leicht die aufgeregten und rätselnden Kinder zu beruhigen und einen geordneten Schulbetrieb zu beginnen. Da kommt für Lehrer und Schüler die Erlösung, als der Schulleiter von Zimmer zu Zimmer geht und die Anwesenden auffordert, sich im Mehrzweckraum zu versammeln. Kaum hat sich die letzte Person im Saal auf einen Stuhl gesetzt, treten der Schulleiter, eine schlanke und dunkelhaarige junge Frau sowie ein grosser kantiger Mann mit Glatze vor die versammelte Gesellschaft. Die Frau stellt sich als Staatsarchäologin des Kantons Bern vor und begrüsst die Anwesenden freundlich mit sanfter jedoch klarer Stimme. Der stämmige und furchteinflössende Mann verkündet unmissverständlich von der Kriminalpolizei zu sein. Mittlerweile hat es auch dem letzten im Saal die Sprache verschlagen und es ist stiller als in der Kirche. Würde nicht der grimmige Mann sprechen, wäre wohl selbst eine zu Boden fallende Daunenfeder zu hören.

 

Die beiden Beamten erklären die merkwürdigen Ereignisse im Mösli und bitten die Kinder sich in nächster Zeit nicht in diesem Gebiet aufzuhalten. Die Archäologin erklärt, dass auf dem Terrain der ehemaligen Wasserburg von Kernenried ein grosser Schatz mit Münzen, goldigem Geschirr und Besteck sowie wertvolle Waffen von Unbekannten ausgegraben wurden. Der Polizist übernimmt nun das Gespräch und erläutert, dass es streng bestrafft wird, wenn jemand Gegenstände eines solchen historischen Fundortes entwendet. Den Schülern kommt dabei eine Mischung aus Angst und unersättlicher Neugierde hoch. Im Weiteren fordert er die Zuhörer auf, sich unverzüglich zu melden, falls jemand Hinweise über die Geschehnisse geben kann. Ausser einigen Räuspern kommt hier jedoch nichts an das Licht. Die beiden Staatsgäste informieren noch darüber, dass Hinweise auch später im Gasthof Löwen im Saal mitgeteilt werden können. Dort befände sich die Einsatzzentrale für die Ermittlungen sowie die soeben begonnen Ausgrabungsarbeiten. Sofort verschwinden die beiden Besucher auch wieder und die Kinder gehen in ihre Klassenzimmer zurück. Diesmal jedoch nachdenklich, in aller Ruhe und fast wie hypnotisiert.

 

Zur selben Zeit gehen verschiedene Polizeipatrouillen von Haus zu Haus und befragen die Einwohner von Kernenried und Zauggenried zu den Geschehnissen. Unterdessen wimmelt es im Dorf und in der näheren Umgebung von fremden Leuten und auch von Medien wie Zeitungen, Radio und Fernsehen. Einige Nebenstrassen im Oberdorf von Kernenried sowie entlang der Urtenen sind vorübergehend gesperrt. Gegen Mittag kapituliert auch der Nebel gegen die Sonne und im Mösli sind neben vielen Leuten auch Bagger, Lastwagen und Polizeiautos zu sehen. An der rechtwinkligen Abzweigung des Burgweg gegen die Urtenen zu, steht ein grosses weisses Zelt, wie wenn dort ein grosses Fest stattfinden würde. Es herrscht auch ein reges hin und her, wobei die dort anwesenden Personen Mengen von nicht zu erkennendem Material vom ehemaligen Standort der Burg in das Zelt tragen.

 

Es sind bereits vier Tage vergangen und Kernenried ist zum Mittelpunkt der Schweiz geworden. Jede nur erdenkliche Nachrichtenplattform, bis weit ins Ausland, berichtet und spekuliert unterdessen über die Ereignisse im kleinen Emmentaler Dorf. Bisher werden jedoch nur Mutmassungen angestellt und keine konkreten Tatsachen berichtet, was wiederum die wilden Fantasien hochspringen lässt.

 

Am Freitagmorgen werden alle Bürger von Kernenried ab 14 Jahren mit einem Flyer im Briefkasten aufgefordert sich um 10 Uhr am Samstagmorgen auf dem Schulhausplatz zu versammeln. Abwesende müssen sich entschuldigen beziehungsweise entschuldigen lassen oder würden sich bei Fernbleiben strafbar machen. Über 400 Kernenriederinnen und Kernenrieder versammeln sich daraufhin pflichtbewusst gemäss behördlicher Anweisung. Der markige eingangs erwähnte Polizist tritt erneut vor das versammelte Publikum. Über eine Lautsprecheranlage erläutert er, dass bisher keine Hinweise über die Täterschaft gefunden wurden und die Bevölkerung zur Mitwirkung aufgefordert ist. Spezialisten der Forensik sowie des archäologischen Instituts, unter ihnen wieder die zierliche Frau, berichten über unschätzbare Funde. Obwohl diese bei Ausgrabungen vor einigen Jahrzehnten nicht gefunden wurden, ist eindeutig bewiesen, dass diese bereits seit vielen hundert Jahren dort liegen müssen. Wieder übernimmt der mächtig wirkende Polizist das Mikrofon und fragt die Versammlung, ob nicht doch jemand etwas zu den Vorkommnissen sagen könne. Nach einer Weile der Stille tritt ein älterer Mann hervor und stellt sich den Referenten als «Hänsu» vor. Er kenne das Land der Urtenen entlang gut und er hätte einen Verdacht, was hier los wäre. Nachdem sich sonst niemand zu den Gegebenheiten äussern will, verschwinden die Ermittler zusammen mit «Hänsu» und begeben sich auf das Gelände der ehemaligen Wasserburg im Mösli.

 

«Hänsu» ist vor Ort erstaunt über das grosse Loch im Boden und was die Bagger und Spezialisten mit Schaufel in der kurzen Zeit alles an Erde abgetragen haben. Ohne Worte schreitet er die Ausgrabungsstätte auf und ab. Nach etwa einer Viertelstunde bleibt er mit dem Tross von Ermittlern im Schlepptau stehen und dreht sich langsam zu seinen Verfolgern um. Es sei wie er vermutet hätte, beginnt er. Vor vielen Jahren, er sei noch nicht mal zur Schule gegangen, hätte es von hier aus ungefähr 100m in Richtung Urtenenbach wie aus dem nichts ein riesiges Loch gegeben, welches gut drei bis vier Meter tief war. Damals hätten die Bauern auch eine Handvoll alte Münzen im Land gefunden, dachten jedoch diese seien jemandem verloren gegangen. Einen Zusammenhang mit dem Geisterloch hatte damals niemand gesehen. Die damaligen Bauern selig kamen derzeit zu folgendem Schluss. Für die landwirtschaftliche Bewirtschaftung des Landes der Urtenen entlang, wurden schon vor vielen Jahren Entwässerungsleitungen verlegt. Schliesslich stand ja die ehemalige Burg im Wasser bzw. Sumpfland. Eine dieser Leitungen sei damals geborsten und das Wasser aus dieser habe sich seinen Weg in das Grundwasser gesucht. Dies hätte eine Unterspülung bewirkt, wodurch das Grundwasser wie ein Sog die Erde abgesogen und das Loch verursacht hätte. Nachdem die Leitung wieder repariert und das Loch mit Kies und Erde gefüllt war, hatte das Schauspiel ein Ende. Er vermute nun, dass die Münzen Tief vom ehemaligen Sumpfboden hochgespült wurden. Dasselbe sei wohl jetzt heute und hier geschehen. Er glaube nicht, dass sich hier Schatzräuber zu schaffen gemacht haben. Nach einigen Tagen der Abklärungen in diese Richtung, stellte sich die Theorie von «Hänsu» als richtig heraus. Eine verstopfte Entwässerungsleitung ist zerborsten und hatte wie vor Jahrzehnten eine Unterspülung verursacht. Dabei sei der seit Jahrhunderten tief im Erdreich verschollene Schatz hochgespült worden.

 

Es wird vermutet, dass der Ritter Kuno von Kerren, welcher Kernenried den Namen gibt, bevor er um 1318 von den Stadtberner Truppen hingerichtet wurde, seine Schätze im tief sumpfigen Ried der Wasserburg versenkte.

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